Kapitel 4; London zur Sommerzeit
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ie Tage wurden kürzer, die Nächte länger. Der Winter schickte sich an, die Macht über das Land an sich zu reißen. Harry vermisste die Geräusche des Herbstes, auch wenn sie nur verzerrt durch das vergitterte Fenster drangen. Das Rascheln von Laub, das Plätschern des Regens, den Aufbruch der Vögel gen Süden. Der Winter, der Winter seines Lebens. Zeit dafür, an Zeiten zu denken. Zeit dafür, an Anna zu denken. Sie war all die Jahre immer in seinem Kopf gewesen. All die Jahre konnte er sie nicht vergessen. All die Jahre sträubte er sich jedoch, an seine Zeit mit ihr zu denken. Sie wurde mit der Zeit bloß zu einer Ikone in seinem Geist degradiert, eine Metapher für den Widerstand, ein verklärtes Bild einer Märtyrerin (die sie niemals war, zumal er bis zu ihrem Tode mit Politik und Widerstand wenig am Hut hatte). Kurz gesagt: Sie wurde zu vielem gemacht, bloß nicht das was sie eigentlich war. Die Liebe seines Lebens, fernab von jeglichen Systemen.
London zur Sommerzeit. Sie waren nun schon etwa ein halbes Jahr zusammen, lebten zusammen, aßen zusammen, liebten zusammen. Die Reise nach London sollte ihr erstes großes Abenteuer sein, das sie außerhalb des Bettes gemeinsam teilen wollten. All die Stunden in den Hörsälen der Universität waren vergessen, all die Drecksjobs die er machen musste um sich diesen Lebensstandard leisten zu können, vergessen, als sie das Flugzeug verließen. London-Heathrow, ein Flughafen, weit größer als sein Bezirk aus dem er stammte. Schnell durch den Check-In-Schalter, das Gepäck geschnappt, ein Taxi gerufen und ab ging die Fahrt in die City. Fleet-Street, Hyde-Park, Big Ben, the houses of parliament, Maddame Tussauds, London-Eye. All diese berühmten Namen die er und sie nur von der Mattscheibe kannten, zum greifen nahe. Diese Metropole, riesig und undurchschaubar – sie mitten drinnen.
Ein Hotel war rasch gefunden, nicht zu billig, nicht zu teuer, Hauptsache ein großes Bett und ab ging es ins Londoner Nachtleben. Das Wetter, very unbritish – die Nacht war warm und verleitete allerlei Gestalten dazu, in den Straßen zu lungern, Pubs zu besetzen oder einfach nur an der Themse abzuhängen. Eine Nacht, dazu geschaffen ewig zu währen, geschichtsträchtige Ereignisse einzuläuten, sich hemmungslos vor Lebenslust zu betrinken oder zumindest Babies zu zeugen.
So zogen sie Hand in Hand durch die Stadt, vergnügt, lebhaft, voller Datendrang und verliebt. Dann und wann blieben sie stehen, um sich umzusehen, das Gefühl, den Vibe der Stadt zu erfassen, bis sie zum Entschluss kamen, dass ihr Vibe schon genug für sie wäre.
Sie beide, alleine unter Millionen. Sie beide, allein unter dem Himmelsdach, umgeben von den Gerüchen der Nacht. So gingen, ja schwebten sie den Straßen entlang, immer in Richtung der City of London – dem Geschäftsviertel. Pulsierend und molochartig bei Tage, ruhig und verlassen wie eine Hütte in den Alpen bei Nacht. Sie bestaunten die imposanten Bauten des Kapitalismus. Diese großen, luxuriösen Gebäude der Dekadenz wo sich in einigen Stunden wieder Finanzhaie und Versicherungsmakler zu Tode stressen würden. Doch von all dem war nun nichts zu bemerken. Romantik machte sich breit an einem Ort der bei Tage nur die Begriffe von Money, Cashflow, Share-Holder Value und Effizienz kannte. Sie ließen sich dazu hinreißen, diesen Ort des Kapitalismus mit ihrer Liebe, in Form von Sex, am Brunnen des Canary Wharf Buildings zu „entweihen“. Jung, verrückt und hoffnungslos ineinander verliebt. Nach getaner „Arbeit“ betrachtete er sie im Mondschein (oder war es der Schein der Halogenleuchten?) und hätte er sie zu diesem Zeitpunkt nicht derart geliebt wie er es tat, so wäre es nun sicherlich der Fall gewesen.
Die langen blonden Haare, die perfekte Figur, die unergründbaren Augen, das Lächeln. Ihre immer ein Wenig nachdenklich wirkende Mimik. Die Hände, zerbrechlich und schön, nicht wie seine Hände, die Hände eines Bergarbeitersohnes. Er bemerkte nun zum ersten Mal all die kleinen Details was ihre Gestik und Mimik ausmachte bewusst. Wie sie hoffnungslos versuchte die Haare hinters Ohr zu klemmen, damit sie nicht immer in die Augen fallen würden. Wie sie, wenn sie nachdachte die Unterlippe nach hinten schob und sich am linken Ohr kratzte. Sich die Augenbrauen senkten bevor sie lachte. Das Zappeln ihres rechten Fußes wenn sie etwas Wichtiges sagte. Wie sie, um besonders aufmerksam zu sein, den Kopf ein Wenig zur Seite lehnte während er ihr etwas erzählte. All diese kleinen Details ließen sie in diesem Augenblick so zerbrechlich, so übermenschlich menschlich erscheinen, dass er fast Angst davor hatte, sie zu berühren, den Augenblick zu zerstören, sie zu verletzen. Lesen konnte er sie zwar immer noch nicht, doch er versuchte es auch gar nicht mehr. Der Reiz des Unbekannten hatte ja auch seine Vorteile.
So saßen sie nun am Rande des Brunnens, schweigend, sich in die Augen blickend, die Reste des mitgebrachten Weines trinkend, sich umarmend, einen Joint rauchend und warteten auf etwas ohne zu wissen was es war. Warten auf Godot, doch diesmal ohne das Gefühl/Geräusch der Langeweile.
Zum aller erstem Mal erschien ihm alles was er tat, was er war, richtig und rein. Er hatte die Unendlichkeit in der Endlichkeit des Seins entdeckt. Seine Seelenverwandte, Partnerin, beste Freundin und Geliebte unter ganz anderen Augen gesehen – mit den Augen eines Kindes, dass zum ersten Mal im Leben das Meer sieht und diese Schönheit und Weite nicht beschreiben, jedoch begreifen kann. Spätestens jetzt wusste er, diese Liebe würde alles überleben, sie würde unendlich währen und nichts, aber auch gar nichts könnte ihm dazwischen kommen. Keine andere Frau, keine Karrierechance, keine widrigen Umstände, nichts. Und er spürte, dass es ihr nicht nur ähnlich ging sondern genau so. Dies war wohl der Moment, in dem er auch das erste, und vielleicht einzige Mal wirklich begriff, was es mit Demut vor sich, dem Leben an sich, der Welt und dem Nächsten auf sich hatte. Nicht er war wichtig, auch nicht sie oder irgendjemand. Wichtig war nur was unwichtig schien.
2 Kommentare:
how sweet ;)
hmmm, weiß nicht, was ich auf dein comment schreiben sollte, genügt ein "thanx"?
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