Lieber Leser - heute kommen wir einmal zu einer ernsten Geschichte. Eine Geschichte ohne Sarkasmus, ohne Humor und mit gewissen Ausgang. Mein Nachbar verstarb gestern und es ist mir scheißegal. Doch warum ist mir dies scheißegal? Bin ich wirklich ein so gefühlloser Mensch das mir der Tod eines Nachbarn, eines Menschen der jahrelang in unmittelbarer Nähe zu mir lebte, keine müde Sekunde der Trauer kostet? Bin ich derart abgestumpft, dass ich gar nicht mehr die Tragweite des Todes eines Menschens erkennen? Oder ist es doch etwas anderes...
Mein Nachbar wurde noch vor dem Krieg als jüngstes von sechs Kindern geboren. Die ersten Lebensjahre verbrachte er damit, seine Mutter und seine älteren Schwestern auf Trab zu halten. Mit Beginn des schulfähigen Alters sprach er oft davon später, wenn er groß wäre, ein wichtiger Forscher zu werden. Was er erforschen würde, wusste er zu diesen Zeitpunkt noch nicht genau.
Als der Krieg endete hinterließ er große Armut und Verwüstungen und genau in dieser Nachkriegszeit, besser gesagt im Jahre 1949, begann mein Nachbar eine Lehre als Maschinenschlosser, denn er war einer der glücklichen die einen Ausbildungsplatz erhalten hatten.
Nach vollendeter Ausbildung begann er in der großen Fabrik seines Bezirkes zu arbeiten - ein Arbeitsplatz den er fast sein gesamtes berufstätiges Leben innehaben würde. Zu dieser Zeit lernte er auch seine spätere Frau kennen, schwängerte sie und heiratete sie schließlich schon stark schwanger vor dem Altar, um sich, ihr und den Kind die Schande einer unehelichen Geburt zu ersparen. Eine Heirat aus Liebe war es nicht gewesen, dann schon eher eine Heirat aus Vernunft und Respekt.
Die nun frisch angetrauten lebten die ersten sieben Jahre ihrer Ehe in einer kleinen Mietswohnung und in dieser Zeit gebar ihm seine Frau noch ihre zweite Tochter und als drittes Kind, seinen Sohn der für einige Jahre sein ein und alles sein sollte. Und zwar genau bis zu dem Zeitpunkt an dem sie begannen ein Haus zu bauen - auf einen Baugrund den sie unverhofft erbten.
Mein Nachbar war ein tüchtiger, ein fleißiger Mann. Er arbeitete jeden Tag in der Fabrik, machte sogar Überstunden, nahm sich einen Kredit bei der Hausbank und arbeitete nach Ende der offiziellen Arbeit noch lange beim Schein der Petroleumlampe am Rohbau. Auch seine Frau unterstützte ihn nach Kräften und arbeitete am Bau während er in der Fabrik war. Die Kinder hatten sie dabei und die älteste Tochter kam ja auch schon ins schulfähige Alter.
Als das Haus endlich vollendet war hatten mein Nachbar und seine Frau sich endgültig nichts mehr zu sagen. Aus ihrer Vernunftehe wurde nun eine noch schlimmere und kältere Variante - sie lebten nur noch nebeneinander her. Natürlich, er war ein guter Ehemann und Familienvater. Scheidung kam für ihn nicht in Frage, genauso wie eine Affäre. Er suchte einfach das eine oder andere Mal eine Prostituierte auf und tat ansonsten das Richtige. Er fluchte nicht, er ging Sonntags in die Kirche, aß Aschermittwochs und zu Karfreitag kein Fleisch, war Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr sowie der Trachtenmusikkapelle, ging wählen und fuhr einmal im Jahr mit seiner Frau und den Kindern für eine Woche nach Jesolo auf Urlaub.
Als seine Kinder erwachsen wurden begannen bei ihm die ersten gesundheitlichen Probleme. Probleme mit dem Herz und dem Kreislauf was sich im Alter von 56 Jahren in einen massiven Herzinfarkt äußerte dem er beinahe nicht überlebt hatte. Er hatte seinen Körper eben zu sehr belastet als er sein Haus baute und musste nun die Folgen dieses Raubbaus zu spüren bekommen. Seine frühere Tätigkeit als Maschinenschlosser konnte er nicht mehr ausüben, er jobbte nun halbtags als Tankwart bei einer Tankstelle und zwei Jahre später konnte er endlich in die wohlverdiente Frühpension.
Nun, als Frühpensionist, konnte er all seine Pläne für den Garten erfüllen. Er baute einen kleinen Werkzeugschuppen, eine Schaukel für die Enkelkinder, legte ein Salatbeet an und danach waren all seine Pläne die er in den langen Stunden in der Fabrik geschmiedet hatte vollendet. Von nun an verbrachte er die meiste Zeit seines Lebens entweder im Wirtshaus oder vor dem Fernseher.
Der zweite Herzinfarkt kam mit 63 Jahren, dem folgte ein Schlaganfall im Alter von 66 Jahren der ihn entgültig zum Pflegefall machte. Ein Jahr pflegte ihn seine Gattin noch zu Hause, dann entschloss sie sich endlich zu leben und verfrachtete ihn ins Seniorenheim wo sie ihn zweimal die Woche besuchte.
Dort, im Seniorenheim, verstarb er nun gestern. Der letzte Schlaganfall war tödlich und gnädig zugleich - er hätte sich nie wieder bewegen, nie wieder kauen und nur mehr schwerlich selbständig atmen können.
Nun hört man die Leute über meinen Nachbarn sprechen was er nicht für ein tüchtiger, für ein fleißiger Mensch gewesen war. Wie er immer hart arbeitete und was er doch für ein Pech und Leid in den letzten Jahren seines Lebens erfahren hatte. Viele werden zu seinen Begräbnis kommen, ehemalige Arbeitskollegen, die Kollegen von Feuerwehr und Trachtenmusikkapelle, der eine oder andere Nachbar und schließlich und endlich die Familie. Er wird auf seiner letzten Fahrt nicht allein sein, als er im Sterben lag war er es und er starb alleine. Der Pfarrer wird schöne Worte finden, versöhnende Worte, tröstende Worte - ohne meinen Nachbarn jemals wirklich gekannt zu haben.
Doch all die Leute werden ihn bald vergessen! Seine ehemaligen Arbeitskollegen haben ihn schon während des Begräbnisses vergessen. Die Kameraden der Freiwilligen Feuerwehr und der Trachtenmusikkapelle warten zumindest bis zum Leichenschmaus mit dem Vergessen. Ja, auch die Krankenschwestern haben ihn schon vergessen und einzig und allein der Zivildiener der die Leiche in der Früh im Zimmer vorfand wird sich noch ein paar Wochen an den bösartigen Menschen aus Zimmer 14 im 2. Obergeschoss erinnern, doch auch für ihn wird dieser Mann, mein Nachbar, nur mehr zur schemenhaften, vergessenenen Erinnerung werden. Alle werden ihn vergessen - auch seine Familie.
Er wurde eines Tages geboren - dann starb er! Und wen wundert es nun, dass mich der Tod dieses Menschens der niemals wirklich lebte so kaltlässt? Ich habe ihn schon vergessen.
Mittwoch, März 30, 2005
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2 Kommentare:
Gibt es diesen Nachbarn wirklich?
Ja - diesen Nachbarn gibt es wirklich, er ist zwar nicht mein Nachbar aber... es gibt ihn in jeder Nachbarschaft :) Ich wollte hier einfach den typischen Bürger und das typische Leben von Menschen dieses Landes beschreiben aber die Geschichte ist frei erfunden und alle meine Nachbarn erfreuen sich bester Gesundheit ;)
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